Fast schon Kinoreif

Jüngst kam es vielerorts zu Krawallen in Kinosälen, ausgestellt auf social media. Welche Schlüsse ziehen wir daraus, wenn es im Saal höher her geht als auf der Leinwand selbst?

Folgender Text befasst sich mit einem Phänomen, welches bereits rund zwei Monate zurückliegt und damit in TikToks Zeitmessung praktisch uralt ist. Trends verfliegen, in ein paar Wochen hat man neue Zehnsekünder in der Timeline. Hin und wieder schwappt was rüber aus dem digitalen Raum ins arglos Analoge. In jenem Falle in die Säle deutscher Kinos. Und teils ratlos bleibt man zurück und möchte es verstehen, doch plözlich war der Film der Wahl Creed 3 auch schon abgespielt und der Wahnsinn vergessen. Was war also geschehen? Anfang März häuften sich Nachrichten über TikTok Videos, in denen deren pubertäre Urheber Kinovorstellungen des Rocky-Legacy-Films Creed 3 störten, die Säle verwüsteten, teilweise Schlägereien anzettelten, mit Essen und Getränken warfen und über die Stühle gingen. Vielerorts mussten Vorstellungen abgebrochen werden, teilweise wurden große Polizeieinsätze provoziert. Die Ratlosigkeit bei Kinobetreibenden war groß, niemand hat für sowas die personellen Kapazitäten, zumal die Coronanachwehen noch immer an vielen Kinos nagen. Das Astor Braunschweig hat für die akute Phase sogar vorsichtshalber einen Security-Dienstleister bauftragen müssen und Creed 3 eigenmächtig auf FSK18 hochgestuft.

 

So schlimm das alles ohnehin schon ist, lassen die Vorkomnisse tiefe Einblicke zu, in die Aufmerksamkeitsökonomie sozialer Medien. Jeder Trend ist ein guter Trend, Aufmerksamkeit ist Aufmerksamkeit. Bad press is good press. So zumindest wird das Spotlight auf solche krassen Mutproben – und um solche handelt es sich praktisch bei dieser Randale – algorithmisch gesteuert und mit Watchtime belohnt. Was man an diesem Phänomen eindrucksvoll beobachten kann ist, dass viele Menschen offenbar nicht mehr in der Lage sind zu erkennen, dass der öffentliche Raum nur funktionieren kann, wenn wir einander nicht nerven. So schildert es auch Filmkritiker Wolfgang M. Schmidt, in seinem Podcast „Die Filmanalyse“: Menschen seien immer weniger empfänglich für die Art Fiktion, die das Kino zu bieten habe, diese, die einen Ausweg aus der mitunter frustrierenden Realität biete. Dadurch, dass sich hier nicht mehr für die Fiktion, die Radikalität und Eskalation im Film selbst geöffnet werde, wird stattdessen im gleichen Raum, in dem die Leinwand hängt, angefangen, selber zu eskalieren und zwar auf dümmste Art und Weise. Neben den offensichtlichen Angriffen auf Interieur und Besucher ist es vor allem auch eine Attacke gegen die Kunst. Schon aus der Logik der Sache heraus muss man zur Empathie fähig sein, um sich in die Figuren auf der Leinwand hineinversetzen zu können, um sich zu identifizieren mit ihnen und ihren Geschichten. Ja man muss das eigene Senden unterlassen. Jene Menschen sind jedoch im hyperindividualistischen Raum gefangen, in der Echokammer aus der heraus man sendet und sich spiegelt im Glanz aus Likes und Reshares. Die Fähigkeit zur Öffnung für andere und deren Stories wurde komplett abgelegt, zugunsten des Zwangs, selbst zum Protagonisten werden zu müssen. Und das ist leider ernsthaft bedenklich.

Foto Artem Zakharov-stock.adobe.com

Vergiss nicht, abzustimmen.
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Simon Henke

Geschrieben von Simon Henke

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