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DADDY SHOT MY RABBIT

Termine
7./8./9. Dezember | Eisfabrik (H)
eisfabrik.com

 

Ein Tanzstück von Chris Jäger

Wer bringt hier wen um?
Ein plötzlicher Kuss, ein Schuss fällt, überall Blut, doch es bleibt im Verborgenen, was hier geschehen ist. Vier Personen – eine davon trägt Hasenohrmütze – bewegen sich in exzentrischen, oft sexuell geladenen Bewegungen in einem Raum voll ausgelegter Teppiche. Sie rangeln und ruckeln. Schieben und heben Bänke, Tische und Klappbett. Alles scheint einsehbar und doch geschieht immer wieder etwas Unerklärliches: Warum die blutroten Hände? Wer tut hier wem genau was an? Für mich bleibt klar, der Hase war es nicht. Der schlägt sich durch. Und am Ende wird wieder getanzt wie in einem Musikvideo aus den 80ern. Die Musik-und Soundebene ist insgesamt herrlich anzuhören und so einige Stellen gehen gar nicht mehr aus dem Ohr.

 

Starke Nerven benötigt
Eins ist klar, wer in das Stück geht, braucht starke Nerven. Psychotische Zustände und körperliche Übergriffe werden phasenweise erbarmungslos in die Länge gezogen. Nur dass hier keine Missverständnisse entstehen: Das Stück hat auch Witz und seine ganz eigene merkwürdige Schönheit. Im LOT-Theater gab es hinterher jedenfalls viel Diskussionsstoff. Die Interpretationen dessen, was geschehen ist und wie die Personen auf der Bühne miteinander verbunden sind, waren sehr breit gefächert. Diese Offenheit und die gleichzeitige klare ästhetische Linie in Bezug auf alles Sichtbare wie Bühnenbild, Kostüme und Requisiten, wo Details poetisch für sich wirken konnten, sind für mich die Stärken dieser Arbeit.

 

Liebe ist tot
Zuweilen bebt es geheimnisvoll unter einem der Teppiche und es bleibt unklar, worum es sich dabei handelt. Die Ursache scheint den Figuren offensichtlich unbewusst zu sein. Auch für das Publikum ist allein das Resultat in Form des ausgelösten Bebens sichtbar. Ebenso offen bleibt, in welcher Beziehung die Figuren zueinander stehen. Vielleicht ist es eine Mutter mit ihren Kindern. Zeitweise könnten es genauso Sexualpartner sein. Diese Wechsel machen das Ganze noch schwieriger auszuhalten. Die Liebe ist jedenfalls tot oder es hat sie nie wirklich gegeben. Gegönnt wird hier niemandem etwas. Alles, was gut tut, muss man sich hier selbst nehmen und womöglich noch vor den anderen beschützen. Es herrscht quasi allgemeiner Notstand auf der psychischen Ebene und von allem, was eigentlich gebraucht wird, gibt es hier zu wenig.

 

 

Traumatisierte Gemeinschaft
Ein wichtiges Thema des Stücks ist die traumatisierte Gemeinschaft, die sich gegenseitig ihre Lüste und Bedürfnisse aufbürdet. Abwechselnd ziehen sie sich an, spielen miteinander, versuchen sich loszuwerden, stoßen sich ab und saugen sich förmlich gegenseitig aus. Ein jeder überreizt die seelischen und körperlichen Grenzen des anderen. Die emotionalen Bedürfnisse und sexuellen Lüste des einzelnen werden ohne Nachsicht dem Rest der Gemeinschaft zugemutet. Das Ergebnis ist verstörend. Rastlos und überreizt machen sie es sich gegenseitig schwerer, als es eh schon ist. Hier wird kein Leid geheilt, sondern erbarmungslos weitergegeben. Ein unbeschadetes Entkommen ist unmöglich. Neben einigen Momenten kurzer Freude befinden sich alle vier immer wieder in neurotischen Zuständen gefangen, dargestellt durch krampfhafte, nervöse Bewegungen. Wer hier Schuld hat, ist nicht auszumachen. Der Hase ist es jedenfalls nicht. Er wird viel mehr zum Spielball als die anderen. Es wird ewig an ihm gezerrt, lange bleibt er eingesperrt, wird buchstäblich herumgeschoben – ohne Unterlass. Ich komme nicht umhin, darüber nachzudenken, wie wir Menschen mit den Hasen und anderen Lebewesen in unserer Umgebung umgehen. Wie oft besitzen wollen mit Liebe verwechselt wird. Zwischen Menschen ist es wohl nicht viel anders. Denn nicht nur der Hase, sondern auch die Menschen kommen aus ihren Verhaltensmustern nicht heraus, geschweige denn, dass sie die Teppiche auf der Bühne verlassen können. Im Grunde sind alle zusammen eingepfercht und der Gewalt der anderen ausgeliefert.

 

Wer ist Chris Jäger?
Er lebt in Berlin und war Tänzer am Staatstheater Braunschweig ab 2012, als Jan Pusch die künstlerische Leitung der Sparte Tanz innehatte. Mittlerweile arbeitet er selbst als Choreograph. Letztes Jahr zeigte er seine Produktion „Sex mit Madonna“ auch im LOT-Theater. Schon die Titel seiner Arbeiten verraten, dass er Tabu-Themen ins Zentrum seines Schaffens stellt. Dabei stehen emotionale Entwicklungen der Figuren und das Zwischenmenschliche im Fokus. Als Choreograph wurde er bisher zu mehreren internationalen Wettbewerben und Festivals eingeladen. Darüber hinaus hat er bei Produktionen für Theater und Film wie zum Beispiel Babylon Berlin, The Hunger Games, TÁR und John Wick Chapter 4 mitgearbeitet.

Fotos Graziela Diez

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Lisa Leguin

Geschrieben von Lisa Leguin

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