Wie Marvel und Disney die Filmlandschaft verändern.
Im Oktober 2019 sorgte Regie-Legende Martin Scorsese für einige Furore, nachdem er in einem Interview zum Erfolg von „Avengers Endgame“ sagte, Marvel-Filme seien für ihn kein richtiges Kino. Nach reichlich Gegenwind von Fans und Branche erläuterte er seine Position in einem Kommentar für die New York Times noch einmal genauer und erklärte, dass dahinter die Furcht vor einer Verdrängung des Films als Kunstform durch den Film als reines Entertainment stecke. Zeigt diese noch immer recht harsche Kritik die Angst eines alten Mannes vor Veränderung oder erleben wir tatsächlich gerade einen Wandel in der Filmkultur, wie Scorsese ihn beschreibt?
Um zu verstehen, was Martin Scorsese an Marvel-Filmen so kritisch sieht, sollte man zunächst einen Blick darauf werfen, wie seine Definition von Kino aussieht. Scorsese ist als Filmschaffender Anfang der 70er-Jahre stark von der Ära des New Hollywood geprägt; einer kurzen, aber entscheidenden Epoche der Filmgeschichte, in der junge ambitionierte Regisseur:innen mit alten Normen des Studiosystems der Golden Ages von Hollywood brachen und durch das Umkrempeln klassischer Genre- und Erzählstrukturen den Film als Kunstform weitgehend etablieren wollten.
„Für mich und meine Freunde, die zur gleichen Zeit Filme zu machen begannen, handelte Kino von Offenbarung, […] von Persönlichkeiten, der Komplexität von Menschen und ihren zuweilen widersprüchlichen Naturen, wie sie sich lieben und verletzen und plötzlich mit sich selbst konfrontiert werden“, positioniert sich Scorsese.
Während es in Filmen wie „Die Reifeprüfung“, „Taxi Driver“ oder „Wie ein wilder Stier“ um das Schicksal ganz individueller Charaktere geht, deren Entwicklung sich nicht so einfach in Gut oder Böse zuordnen lässt, wird bei Marvel-Geschichten oft auf große übergreifende Werte gesetzt: Die Rettung einer Stadt, der Menschheit oder gleich der ganzen Welt. Der Kampf Gut gegen Böse, auf den es bei Marvel in der Regel hinausläuft, lässt wenig Platz für individuelle oder tiefgreifende Konflikte und Entwicklungen. Da gibt es zwar „First Avenger: Civil War“, in dem sich die Superhelden mal etwas uneinig sind, aber selbst dort werden potenziell spannende Konflikte nicht weiter ausgetragen, denn das würde bedeuten, schlussfolgernd Konsequenzen zu ziehen, und auch damit tut sich Marvel eher schwer. So werden ernstere Szenen schnell durch Lacher und Humor ausgeglichen. Es kommt selten dazu, dass sich Zuschauer:innen negativen Gefühlen ausgesetzt sehen und wenn doch, dann um große epische Momente wie in „Avengers Endgame“ zu kreieren. Trotz hohem Unterhaltungswert bleiben nur wenige Szenen in Erinnerung. Und mit dem Gefühl, etwas vollkommen Neues gesehen zu haben, geht man eher selten aus dem Kino. Scorseses Vergleich mit einem Freizeitpark ist hier ziemlich passend, denn entscheidend ist bei Marvel vor allem kurzweilige Ablenkung durch viel Action und epische Bilder.
Natürlich kann man sagen, dass es sich bei den Marvel-Filmen ja letztlich um Comicverfilmungen handelt, die in erster Linie einfach unterhalten sollen und das ist auch in Ordnung so. Allerdings verstopfen die Franchise-Produktionen in ihrer Masse und Häufigkeit regelrecht die Kinos. Marvel gehört zudem zum Disney-Konzern, der mittlerweile einen riesigen Anteil an der Filmindustrie besitzt und den Markt mit immer ähnlich aufgebauten Filmen flutet. Bei ihren Produktionen geht es weniger um die kunstvolle und neuartige Bereicherung des Mediums Film als vielmehr um die Abfertigung und Aufmerksamkeit der breiten Masse. Für die Individualität der Künstler:innen hinter den Filmen bleibt da wenig Platz, denn die Spielzeiten der Kinos sind begrenzt und die Zahl unabhängiger kleiner Lichtspielhäuser ging in den vergangenen Jahren zurück.
So sollte man sich auch als eingefleischter Marvel-Fan vielleicht mal überlegen, etwas Neues zu wagen und der wundervollen Diversität des Kinos eine Chance zu geben. Die Masse der Comicverfilmungen wird nämlich langsam ziemlich ermüdend und vielleicht öffnen sich dann Türen für ein neues New Hollywood.
Text Moritz Reimann
Fotos The Irishman/Netflix