Netflix & Kill

Der Hype um True Crime hält an. Doch sind reale Verbrechen als Entertainment nicht eigentlich ziemlich verwerflich?

Einst waren es noch Hannibal Lecter, Norman Bates oder Patrick Bateman, die uns schwitzige Hände und schlaflose Nächte bescherten – ambivalente Charaktere, die erfundene Verbrechen begehen. Dieser „sichere Horror“ fernab der Realität scheint uns jedoch nicht mehr auszureichen und so eroberte in den vergangenen Jahren das Genre True Crime unsere Mediatheken. Inzwischen sind es Ted Bundy, John Wayne Gacy oder Jeffrey Dahmer, deren Geschichten erzählt werden und das Blut in unseren Adern gefrieren lassen. Unsere alteingesessene „Tatort“-Nation ist dem Hype völlig verfallen – wir frühstücken eine Portion „Mordlust“, snacken zwischendurch eine leckere Episode „Making a Murderer“ und ziehen uns zum Einschlafen noch eine entspannte Charles Manson-Doku rein. Wir sind süchtig nach realen Verbrechen, denn die spannendsten Geschichten schreiben nicht etwa Sebastian Fitzek, Simon Becket oder Joy Fielding, sondern das Leben selbst.

 

Wir wollen so nah wie möglich ans Feuer, ohne uns selbst zu verbrennen: Eine Sensationsgier, Einblicke in die verquere Psyche der Killer und Überlebensstrategien der Opfer – alles bequem vom Sofa aus. Statt Kriminalität und Gewalt von uns fernzuhalten, holen wir sie uns ins Wohnzimmer und bingewatchen Mord und Vergewaltigung. Wir nutzen realen Schrecken als Entertainment, Mittel gegen Langeweile und für Selbstbestätigung: Eigentlich gehts mir doch ganz gut. Sind wir ekelhafte Spanner:innen, wenn wir uns entspannen, während wir uns das Leid realer Opfer anschauen? Werden wir zu Kompliz:innen, wenn wir den Hype um kaltblütige Killer durch Klicks und Streams befeuern? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn grausame Gewalt plötzlich salonfähig ist?
Zugegebenermaßen ist True Crime kein neues Phänomen, das Leser:innen, Hörer:innen und Zuschauer:innen fasziniert. Die Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ lädt etwa seit den 1960ern dazu ein, mit zu ermitteln und unaufgeklärte Fälle zu lösen – mit einer Erfolgsquote von knapp 40 Prozent. Insbesondere mithilfe von Social Media kann also tatsächlich auch zur Aufklärung öffentlich gemachter Kriminalfälle beigetragen werden. Jedoch ist es in den seltensten Fällen die detektivische Ader der Rezipierenden, die zur True-Crime-Sucht führt. Die eigentliche Motivation ist eine viel egoistischere: Durch True Crime bekommen wir Einblicke in reale Gefahrensituationen und können daraus Schlüsse und Lehren ziehen, um selbst nicht zum Opfer zu werden. Quasi wie eine Gebrauchsanweisung für das echte Leben. Erschreckend ist hierbei auch die Anzahl weiblicher Rezipientinnen, die rund 70 Prozent ausmachen. Da Frauen selbst viel häufiger Opfer von (sexuellen) Gewalttaten werden, ist diese Zahl schrecklicherweise nicht gerade überraschend und hält strukturellen gesellschaftlichen Problemen einen hässlichen Spiegel vor. Dass dafür jedoch – teilweise ungefragt – reale Opfer und deren Angehörige als öffentliche Beispiele herhalten müssen, gerät dabei häufig in Vergessenheit. Das ist insbesondere der Fall, wenn reale Crime-Fälle durch bekannte Schauspieler:innen, ein stylishes Setting und künstliche Spannungsbögen so aufgearbeitet werden, dass sie beinahe fiktiv wirken.
Ein brisantes Beispiel dafür ist etwa der kürzlich erschienene Netflix-Hit „Dahmer – Monster“: Hier wurden ungefragt Angehörige der Mordopfer porträtiert und damit Traumata wiederbelebt. Gute Quoten im Tausch gegen die Privatsphäre und mentale Gesundheit Betroffener – ist das an Geschmacklosigkeit noch zu übertreffen?
Leider ja. Die Flut an True Crime-Fällen und Formaten führt auch zur Abstumpfung gegenüber Gewalt. Natürlich ist „Dating Game Killer“ Rodney Alcala mit etwa 130 vermuteten Opfern irgendwie spannender als Olaf Däter aus Bremerhaven, der fünf Omas auf dem Gewissen hat. Je grausamer, desto besser und so avancieren die richtig Krassen fast schon zu Ikonen – ihre düsteren Gesichter zieren inzwischen Hoodies und Kaffeetassen. Diese Romantisierung von Schrecken und der aufkeimende Täterkult ist widerlich und der True-Crime-Hype sollte definitiv hinterfragt werden. Überlassen wir die Berichterstattung lieber den Gerichtsreporter:innen und Journalist:innen, aber nicht Filme- und Serienmacher:innen, die mit bekannten Schauspieler:innen Quoten sichern, Fakten weglassen oder hinzudichten, Grauen in Unterhaltung umwandeln und Retraumatisierung in Kauf nehmen. Schlussendlich sind es die Opfer, auf die wir Acht geben sollten – nicht auf die Täter.

Foto Netflix

Vergiss nicht, abzustimmen.
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Louisa Ferch

Geschrieben von Louisa Ferch

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