Bilderbomben
Graffiti in Braunschweig war nicht immer so fotogen. Zwar gab es hier schon in den 1990er Jahren jede Menge Straßenkunst, sogar mehr als heute, doch zumeist illegal – und somit zum Schaden wütender Privatleute. Den einen stört‘s, der andere erfreut sich dran und so war die jugendliche Szene riesengroß. Viele große Crews wurden mit ihren stylisch geschwungenen Chrom-Bombings überregional berühmt-berüchtigt. In den 90er Jahren war eigentlich ganz Braunschweig zugesprüht und noch heute sieht man im Stadtgebiet vereinzelt die Zeugnisse dieser Zeit, etwa an den Schallschutzwänden der Stadtautobahn. Doch auch im legalen, viel ästhetischeren und künstlerischen Bereich war schon damals viel los. Die Braunschweiger Hall of Fame, die einstige Markthalle am Hagenmarkt, war schon damals voll von farbenfroh und fein gesprühten Bildern mit bunten Characters und ausladenden Backgrounds.
Eine behördliche Großoffensive Ende der 1990er Jahre beendete die Ära der Illegalität schließlich größtenteils. Parallel bekam Street Art weltweit völlig neue Impulse und eine frische Bedeutung, die nicht zuletzt durch den heute millionenschweren Superstar Banksy auch im letzten bürgerlichen Wohnzimmer für Akzeptanz von Straßenkunst sorgte, denn Street Art spricht irgendwie jeden an: „Anders als bei manchen Graffiti richten sich die Botschaften bei Street Art ja nicht nur an die Szene selbst, sondern an die ganze Gesellschaft“, erklärt Markwort, „der öffentliche Raum in den Städten ist durch permanente und großflächige Werbung geprägt. Street Art besetzt den gleichen urbanen Raum und setzt in kommunikativer Form Botschaften, politische Statements und irritative Momente entgegen.“
Kunstfan Martin verfolgt die ständig wechselnde Street Art im Kiez. Auf seinen Spaziergängen durch die Straßen lässt er den Blick schweifen und entdeckt dabei ständig Neues. Eine große Motivation für die Arbeit am Buch war für ihn die Möglichkeit, die vergängliche Kunst zu konservieren. „Industriebauten und Flächen werden abgerissen, Kunstwerke verwittern, werden entfernt oder durch andere stetig ersetzt. Nimmt man nur mal die Fläche unter der Graffiti-Brücke am Westbahnhof und schaut sich in der wärmeren Jahreszeit an, wie oft neue Werke zu sehen sind, kommt man allein hier vermutlich auf mehrere hundert Graffiti in einem Jahr“, erzählt der gebürtige Braunschweiger, „ich wollte einen Überblick dokumentieren, einen Querschnitt dieser temporären Kunstwerke an aktuellen und vergänglichen Orten, um diese Kunstformen und die Künstler damit zu würdigen. Das ist gleichzeitig auch ein Stück Stadtteilgeschichte.“
Die ursprüngliche Idee zum Buch hat Martin im Gespräch mit Dietlinde Schulze vom Fachbereich Kultur der Stadt Braunschweig entwickelt, die schon seit längerem Street Art und Graffiti fotografiert hatte, wie er selbst. Im Rahmen des Städtebauförderungsprogramms Soziale Stadt konnte das Buchprojekt im Vorjahr schließlich realisiert werden, mit einer Auflage von 1 000 Exemplaren, einem Umfang von 84 Seiten und brennender Tatkraft von Marion Tempel, die für die Quartiersmanagementgesellschaft Plankontor in der Hugo-Luther-Straße gearbeitet und sich für die Kultur im Westlichen eingesetzt hat. Der Bildband hätte im Nachhinein locker doppelt so dick werden können – genug Material war da, nachdem Martin diverse Fotoarchive durcharbeiten konnte, doch wollte er das Wohlwollen seiner Förderer im Hinblick auf die Kosten nicht überstrapazieren.

Der Frühling kann also kommen, um Braunschweigs Wilden Westen bei sonnigen Spaziergängen mal ganz neu kennenzulernen und zu erkunden, nicht nur die Hotspots am Westbahnhof; auch rund ums Ringgleis, in Häusernischen, hinter Hecken an Spielplätzen oder an verlassenen Gebäuden – mit einem offenen Blick für Architektur und Raum, denn es gibt viel zu entdecken – aber auch mit einem Fokus für Kunst und Kultur im Allgemeinen. Denn Martin Markworts Buch ist auch ein Beitrag zum Erhalt der hiesigen Kulturlandschaft. „Aktuell erscheint es mir sehr wichtig, alles daranzusetzen, die Kreativ- und Kulturwirtschaft in Braunschweig durch und über die Corona-Krise zu bringen. Nicht alle werden derzeit gefördert und manche fallen durch das formale Raster. Am Ende des Tages werden wir womöglich alle ärmer und uns über schmalere Kulturangebote und Schließungen wundern. Es ist wichtig, jetzt dagegenzusteuern“, appelliert der Grafiker, „im Westlichen Ringgebiet werden viele kleine Kulturbrötchen gebacken, aber die können richtig lecker sein“, so Martin weiter. „Kultur ist Lebensmittel!“ – und Braunschweig ist bunt. Das soll bitte auch so bleiben.
Text Benyamin Bahri
Fotos Karl Eckhardt, Michael Schulze, Martin Markwort